Mit Reisen reisen – der etwas andere Reisebericht aus Taiwan, der Heimat meiner Mutter
von Nanja Oedi
Sobald ich in der Taipei gelandet bin, fühle ich mich oft gleichzeitig wie zuhause und als Außenseiterin. Doch etwas ist dieses Mal anders. In meiner neuen Mutterrolle spüre ich plötzlich die Verantwortung und den Anspruch meinem Mann und meiner Tochter eine starke Anführerin zu sein. Es ist ja schließlich „mein“ Herkunftsland, in das ich sie einführe. Also lasse ich meine innere Überforderung angesichts der Hitze, großen Menschenmengen und lauten Geräuschen nicht anmerken, kämpfe mich mit rudimentären Sprachkenntnissen durch die Stadt und schaffe es, uns ohne große Zwischenfälle uns in die Unterkunft zu navigieren. Innerliche klopfe ich mir auf die Schulter, äußerlich bleibe ich cool. Ist doch nichts Besonderes für eine Halb-Taiwanerin, oder?
Zwischen Marmeladentoast und Nudelsuppe
Mein Mann und ich lieben Asien – das Klima, die Menschen, das Essen. Besonders asiatische Großstädte haben es mir angetan mit ihren Gegensätzen zwischen Traditionen und Urbanität, endlosen Shoppingmalls und Streetfood-Küchen. Ich liebte schon immer das Nachtleben und spüre, wie ich mich deutlich entspanne, weil wir in Asien nicht mehr die einzigen Eltern sind, deren Kind nach 20 Uhr noch unterwegs ist. Das bunte Treiben, die grellen Lichter der Nachtmärkte geben mir Energie und ein befreiendes Gefühl. Unsere Tochter fügt sich problemlos unserem neuen Lebensrhythmus ein. Niemand nimmt uns als Ausländer wahr und fast kommt es mir schon so vor, als dass wir uns wie eine echte taiwanesische Familie durch die Stadt bewegen.
Wären da die nicht Essensvorlieben unserer Tochter. Beim ersten gemeinsamen Abendessen outen wir uns endgültig als Nicht-Taiwaner, weil unsere Tochter kategorisch jegliches asiatisches Essen ablehnt. Für den Rest der Reise entpuppte sich der Gemischtwarenladen 7-Eleven als ihr Lieblingsort. Ein abgepackter Marmeladentoast und Trinkjoghurt mit Erdbeergeschmack werden fortan zu unserer Frühstücksroutine. Manchmal schaffen wir es, sie zu einer Schüssel puren Reis zu überreden. Immerhin, das Essen mit Stäbchen bereitet ihr Freude, aber von gedämpften Teigtaschen will sie zum Leidwesen meines Mannes weiterhin nichts wissen.
Knigge in Taiwan
Wir reisten entlang der Westküste. Taiwan ist unglaublich familienfreundlich: Es gibt immer freie Plätze und Familien-Toiletten an öffentlichen Orten. Einzig die Trotzphasen und Wutanfälle unserer Tochter in der Öffentlichkeit bringen mich an meine Grenzen. In Berlin, wo Eltern-Kind-Streitigkeiten auf dem Spielplatz und Nevenzusammenbrüche in der U-Bahn zum Alltag gehören, bin ich tiefenentspannt. In Taiwan hingegen gerate ich plötzlich in Panik und Hektik, sobald unsere Tochter ihren Willen durchsetzen will. Weil in Taiwan wirklich NIE ein Kind weint. Ich weiß nicht, wie die taiwanesischen Eltern das schaffen, aber ihre Kinder scheinen bereits von Geburt an zu wissen, wie man sich in der Öffentlichkeit benimmt. Ich beginne an meiner Erziehung zu zweifeln, versuche strenger aufzutreten, mit der Folge dass das Gebrüll noch lauter wird. Ich ahne, dass wir uns in einer Abwärtsspirale befinden, beschließe mich der Lage zu ergeben und flüstere Stoßgebete, dass mich in diesem Land niemand kennt…
Familienbande
Nach Stationen in der wunderschönen traditionellen Stadt Tainan und dem beeindruckenden Hafenstadt Kaohsiung treffen wir in Taichung meine taiwanische Familie. Wir haben kein besonders enges Verhältnis, aber durch unsere Kinder spüre ich das Bedürfnis das Familienband wieder zu stärken. So genieße ich es bei üppigen Essen und Gastgeschenken das Wiederaufleben alter Beziehungen. Für meine Tochter sind diese Treffen allerdings immer anstrengend. Für sie sind meine Verwandten fremde Menschen, die in einer ihr unverständlichen Sprache sprechen und deren plötzliche Zuneigung willkürlich und befremdend wirkt. Ich ignoriere ihr Unbehagen, weil das zu einem Familientreffen dazugehört, aber innerlich tut sie mir leid. In Berlin würde ich sie dieser Situation nie aussetzen. Ich hake es gedanklich als ihren ersten interkulturellen Härtetests ab und entschuldige mich mit einer extra großen Portion „Shaved Ice“.
Das Highlight: Löwen am Strand von Kenting
Am Ende unserer Reise kam das Highlight für unsere Tochter – der Strand von Kenting. Sandburgen bauen, im Wasser spielen und in die Wellen springen, das war alles, was sie brauchte. Wenn ich sie da so glücklich toben sehe, beschleicht mich das Gefühl, das wir ihren Bedürfnissen nach Urlaub nicht gerecht geworden sein könnten. Die lange Rundreise, zahlreichen Zugfahrten, alle 3-4 Tage an einem fremden Ort, das war sicherlich anstrengend, ohne Frage. Haben wir bei all der Euphorie über unsere Heimkehr nach Asien etwa vergessen, was Erholung für unsere Tochter bedeutet? Wäre eine Reise an die Sandstrände von Italien oder an die nur 3 Autostunden entfernte Ostsee nicht doch ausreichend gewesen? Was haben wir ihr zugemutet? Waren wir einfach zu egoistisch…?
Während mich Gewissensbisse plagen, dreht sich meine Tochter plötzlich zu mir um und sagte stolz, dass sie ein neues chinesisches Wort gelernt hat: shīzi (狮子) – das heißt Löwe.
Es kommt ganz unverblümt, ohne jeglichen Zusammenhang und trifft mich unvorbereitet. Mitten ins Herz. Meine Tochter hat von ganz alleine ein chinesisches Wort gelernt. Als Mutter der zweiten Generation, die selbst die Sprache ihrer eigenen Mutter kaum spricht, platze ich fast vor Stolz. Und fühle mich wie eine richtige Löwenmama.
Glück und Schwefel
Unsere letzten Tage verbrachten wir in Beitou bei den Hotspring-Quellen im Norden von Taipei. Nach einem Bad in den heißen, schwefelhaltigen Quellen verschwindet die Neurodermitis unserer Tochter innerhalb weniger Tage. Der Ort tut uns insgesamt gut, ist nicht so hektisch wie die Innenstadt und besticht mit einer wunderschönen Landschaft im nahegelegenen Tamsui.
Das Nachtleben in Taipei haben wir dieses Mal ausgelassen, ein bisschen schade finde ich es schon. Ich vermisse die langen Partynächte und das pulsierende Nachtleben in Taipei und werde etwas nostalgisch, wenn ich an meine unbeschwerte, kinderlose, Mittzwanziger Zeit denke, die ich im Szeneorten wie Ximending verbracht habe. Stattdessen verbringen wir unsere letzten Stunden in der Nähe von der Chang Kei-Shek Memorial Hall auf einem beeindruckenden, öffentlichen Inklusions-Spielplatz und erledigen noch ein bisschen Souvenirs-Shopping im Creative Park, einem Hub für lokale Kunsthändler und Designer.
Nächster Halt: ungewiss
Nach fast drei Wochen treten wir die Rückreise an. Ich bin traurig und wehmütig, freue mich aber auch auf Zuhause. Meine Tochter vermisst ihre Freunde und ihre vertraute Umgebung.
Die Frage danach, wo wir eigentlich hingehören, bleibt. Und ich beginne zu begreifen: Es ist eine Reise, die nie endet, und vielleicht werden wir immer zwischen den Welten wandeln. Zugehörigkeit ist kein fester Ort, sondern ein Gefühl, das sich im Laufe des Lebens entwickelt. Die Welt durch die Augen meiner Tochter zu erblicken lehrt mich neue Dinge über mich selbst und ich komme meiner Suche nach Identität ein kleines Stücken näher. Ich hoffe, dass es ihr auch so geht und dass sie durch die Begegnung mit verschiedenen Kulturen und Lebensweisen lernt, ihre eigene Identität zu definieren und ihren Platz in der Welt zu finden.
Andererseits, stelle ich mir die Frage ob die Thematik für sie später überhaupt noch relevant sein wird, weil ihre Generation mit einem anderen multikulturellen Verständnis aufwächst, Grenzen verschwimmen und Migration an Bedeutung verliert. Vielleicht wird es dann für meine Tochter selbstverständlich sein, sich sowohl als Deutsche als auch als Taiwanerin, Myanmarin oder Indonesierin zu fühlen, ohne dass sie sich dafür rechtfertigen muss.
Bis dahin freue ich mich auf unsere nächsten Abenteuer. Wohin es uns dann führen wird, bleibt offen. Doch eines ist sicher: die Reise geht weiter.
Schreibe einen Kommentar